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Kultur.Diplomatie




12.10.2015  Theaterfestival „Magie der Sprache“ – Im Gespräch mit Elena R. Marino



„Stimmen im Sturm“ (Voci nella tempesta): eine Neuinterpretation der tragischen Ereignisse im Trentino nach dem Kriegseintritt Italiens 1915 aus weiblicher Sicht

Italienisches Kulturinstitut Wien: Das vorliegende Theaterprojekt hat ein historisches Ereignis zum Thema, das oft nur am Rande behandelt wird. Worum geht es genau?


Elena R. Marino: Das ist richtig: Leider wurde dieses Ereignis außerhalb des Trentino fast vollständig vergessen. Die Kriegserklärung Italiens an Österreich 1915 hatte für das Trentino schreckliche Folgen: Viele Dörfer und Gemeinden ebendort befanden sich plötzlich in unmittelbarer Nähe zur Front und folglich in großer Gefahr. Eine sehr große Zahl an Frauen, alten Menschen sowie Männern mit Behinderungen und Kindern mussten ihre Häuser und ihre Heimat verlassen. Mehr als 70.000 wurden auf Befehl der österreichischen Regierung in den mittleren Teil des Habsburgerreiches geschickt (Unterösterreich, Böhmen, Mähren), während weitere 30.000 vom italienischen Militär nach Italien gebracht wurden (von der Lombardei bis Sizilien). Mehr als drei Jahre lebten die Vertriebenen fern von ihrer Heimat in Lagern, die die österreichische Regierung an verschiedenen Orten des Kaiserreiches errichten ließ. Von einem Tag auf den anderen mussten sie all das erleiden, was durch absolute Armut und Krankheiten auf die Menschen zukommt. Dazu kam die Schwierigkeit, sich an den neuen Lebensraum in einem fremden und feindlich gesinnten Land anpassen zu müssen.

 

Das vorliegende Theaterprojekt zeichnet sich durch eine außergewöhnliche Kraft und Lebendigkeit aus, da es auf einer Bearbeitung autobiografischer Texte beruht. Welche Zeitzeugnisse wurden im Speziellen verwendet?


Wir haben autobiografische Beschreibungen von aus dem Trentino nach Österreich vertriebenen Frauen überarbeitet. Die Originalquellen werden heute im Archiv privater Quellen des Historischen Museums von Trento aufbewahrt. Die tagebuchartigen Aufzeichnungen erlaubten es uns, abseits der konventionellen Beschreibungsweise von Kriegen, den Standpunkt der Frauen und ihre Darstellungen des Krieges kennen zu lernen. Es handelt sich dabei keinesfalls um zweitrangige Gesichtspunkte, sondern vielmehr um solche, die stets vernachlässigt wurden. Wir konnten in der Folge all das in Szene setzen, was die Zwangsausweisung betraf, die Enteignung des Alltäglichen, das vollkommene Durcheinanderbringen des Lebensrhythmus und der Regeln des täglichen Lebens. Das Theaterstück zeigt folglich die Situation aus einer vollkommen anderen Perspektive: namentlich jener Frauen, die zwar nicht an der Front waren, aber trotzdem ihren eigenen täglichen Krieg bewältigen mussten – jenem der Annullierung des eigenen Bezugshorizonts, der Lebensziele und sogar der eigenen Identität.


Wie wurden die autobiografischen Zeugnisse für das Theaterstück aufbereitet? Wie kann man die Handlung beschreiben?


Wir versuchten, die Zeugnisse so getreu wie möglich wiederzugeben und gleichzeitig die Gefühle der Hauptfiguren so lebendig wie möglich darzustellen; unser dramaturgischer Ansatz folgte der Idee, drei Frauen die Geschichte vieler Frauen erzählen zu lassen. Die drei Hauptdarstellerinnen personifizieren drei verschiedene Lebenseinstellungen und Lebensphilosophien. Die erste Persönlichkeit ist durch einen starken und individualistischen Charakter gekennzeichnet und will in erster Linie ihre Familie vor den Schrecken des Krieges beschützen. Die zweite resigniert weder vor der Veränderung noch vor der Vereinheitlichung: sie lässt ihre Wut heraus und verteidigt ihre Standpunkte. Die dritte Hauptfigur ist die jüngste und sie ist bereit, alles zu ändern. Darüber hinaus verkörpert sie die Hoffnung, die die älteren Generationen zyklisch verlieren, aber die den jüngeren nie abhanden kommt: Es ist die Hoffnung, dass sich die Dinge verändern, dass schon bekannte Fehler nicht wiederholt werden und dass die Zerstörungswut des Krieges und der Gesellschaft ihre grausamen Massaker beendet.

 

An dieser Stelle erkennen wir deutliche Analogien mit der Gegenwart: das Theaterstück zeigt auch unter diesem Gesichtspunkt seine Ausdruckskraft und seinen Symbolwert. Was ist der rote Faden, der die Gegenwart an die Ereignisse der Vergangenheit knüpft?


Auch heute leben wir, wie gestern – oder in einem gewissen Sinn noch mehr als damals –, in einem Ausnahmezustand im Sinne einer humanitären und zivilen Notsituation, nicht eines politischen. Wir leben eine Identitätskrise und niemand versteht mehr, zu welchem „Volk“ er gehört, aber jeder muss diesbezüglich oft eine definierte Position vertreten. Wir leben in einer Zeit, in der jeder gegen jeden ist. Die Ausbürgerung der Bevölkerung des Trentino ist eine Episode, die schnell universellen Charakter erhält: sie verweist schon auf die Lager im Zweiten Weltkrieg sowie auf die heutige Situation der Flüchtlinge und der Flüchtlingslager – ausgegrenzte Bereiche und Niemandsland, in denen Menschen zusammengepfercht werden, die ihre Häuser und ihren Besitz zurücklassen mussten. Das Theaterstück schließt mit einer Öffnung der Zeit im Sinne einer Warnung, gut aufzupassen. Die Lehren der Vergangenheit müssen in unseren heutigen Blick auf die Welt und ihre Dramen eingebunden werden. Wir dürfen die Zeugnisse der Geschichte nicht außer Acht lassen in der Illusion, dass sich Geschichte nicht wiederhole.

 

 

 

Redaktion: Italienisches Kulturinstitut Wien


 

 





 

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